Städter, bleibt in Eurer Bubble!

Und bleibt am besten auch in Eurer Stadt, wenn Ihr die Regeln hier nicht kennt! Ja, ich lebe in einer Kleinstadt. Wobei manche, die in einer größeren Stadt leben, dies wohl auch als “Land” bezeichnen würden. Nicht sehr weit von der nächsten größeren Stadt entfernt, vermutlich ist dieser kleine Ort daher auch für nicht wenige Städter durchaus attraktiv, weshalb immer mehr von ihnen hier eindringen. Und damit leider auch die Gepflogenheiten übersehen, nicht verstehen, und ihre eigenen Verhaltensweisen mitbringen. Neben ihren E-Autos und sonstigen Gimmicks. 

Aber von vorne. Wenn ich durch diese durchaus typische deutsche Kleinstadt gehe, dominieren klar Einfamilienhäuser, Doppelhäuser, Reihenhäuser gegenüber den Mehrfamilien-Varianten. Und mit Hochhäusern ist alles gemeint, was über zwei Stockwerke hinaus geht. So schön, so idyllisch, so normal. Nun gibt es insbesondere bei den ersten Varianten, also Einfamilienhäusern, Doppelhäusern und Reihenhäusern, die ich hier einfach mal als “Familienhäuser” abkürze, klare Regeln der Nutzung. Natürlich sind diese nirgendwo festgeschrieben, sondern eben Naturgesetz, stillschweigende Vereinbarung, einzig sinnvolle Tradition – oder wie auch immer. Jedenfalls fällt ein Bruch dieser Nutzungseigenschaften sofort auf, wird aber leider nicht entsprechend geahndet. 

Denn die meisten Familienhäuser besitzen zwei Arten von Gärten – einen Vorgarten und einen Garten. Letzterer ist hinter den jeweiligen Häusern vorzufinden, mir ist kein spezieller Name bekannt, also bleiben wir einfach bei “Garten”. Teilweise trifft dies auch für Mehrfamilienhäuser zu, bei den noch größeren Varianten ist diese Aufteilung hingegen eher selten vorzufinden, was auch nicht verwundern dürfte. Aber jene spielen in dieser Betrachtung hier auch keine Rolle. 

Der Vorgarten zeichnet sich durch einige Eigenschaften aus. Wie der Name es bereits andeutet, ist er vor dem Haus zu finden. Also ein Bereich zwischen Straße bzw. Bürgersteig und Eingang, von eben jener Straße gut sichtbar, und je nach Gestaltung mal grüner, mal steiniger. Zu den vielgescholtenen Steingärten könnte ich explizit noch die eine oder andere Abhandlung schreiben… Ok, ich will nicht abschweifen.

Den Vorgarten könnte man aber auch als Soda-Garten bezeichnen. Also analog zu den Soda-Brücken ist dieser Garten einfach “so da”. Er hat keine bis die eine Funktion, das jeweilige Haus von Straße und Bürgersteig abzugrenzen. Natürlich findet sich hier alles von Steinbröseln bis zu individuellen Gartenkunstwerken, und all das will natürlich gepflegt werden. Man wird also die Bewohner der jeweiligen Häuser nur aus dem einzigen Grund dort finden – und zwar zur Wartung und Pflege des Soda-Gartens. Also Rasenmähen, Unkraut jäten, Sträucher schneiden etc., zu all diesen Tätigkeiten finden sich ein oder mehrere Bewohner im Vorgarten ein. Ansonsten nicht.

Also wirklich nicht, denn niemand, der noch alle Sinne halbwegs beisammen hat, würde auf die Idee kommen, den Vorgarten irgendwie anderweitig nutzen zu wollen. Wie und warum denn auch? Schließlich gibt es hinter dem Haus den “normalen” Garten. Dort wird all das getan, was man a) so draußen im Garten tun muss und b) so draußen im Garten tun kann. Und der letztere Punkt macht den Unterschied! Also neben der Wartung und Pflege, die hier natürlich auch stattfindet, dient dieser Garten hinter dem Haus zur Erholung, zum Spielen, Essen, Grillen, Beisammensein, zum Betrachten der vielen Lebewesen und so weiter – also kurzum, dazu, dass sich Menschen und Tiere dort aufhalten, wenn es denn das Wetter und die jeweilige persönliche Motivation erlauben. Dieser Garten bietet dazu eine Eigenschaft, die der Vorgarten genau nicht bietet – er ist hinter dem Haus. Das heißt, er ist für alle Leute, die zufällig am Haus vorbei gehen, nicht einsehbar. Vielleicht können die direkten Nachbarn einen Blick auf die eigene Kaffeetasse werfen, aber das war es dann auch schon. Und im besten Fall versteht man sich mit denen so gut, dass man ihnen im Zweifelsfall auch mal mit ein wenig Zucker oder dem einen oder anderen Gartengerät aushelfen würde. 

Nochmal zusammengefasst:

  • Vorgarten oder Soda-Garten: Er existiert einfach, wird regelmäßig gepflegt, spielt eine Rolle für das äußere Erscheinungsbild des Anwesens. 
  • Garten: Hier spielt sich das Leben ab. 

Vielleicht wirken daher manche Straßen für den Außenstehenden still oder gar steril, aber genau das ist eben nicht der Fall. Man möchte nur logischerweise nicht, dass jeder Hinz & Kunz einen Einblick in das eigene Leben erhält. Genau wie die Mauern eines Hauses nicht transparent sind, muss nicht jeder Vorbeigehende oder-fahrende wissen, dass man gerade Kuchen isst, oder ob man sich mit dem Pflanzen von Tomaten oder doch eher der neuesten Thriller-Serie auf Netflix beschäftigt. 

Dieses Nutzungsszenario bietet einen entscheidenden Vorteil, denn so strahlen Kleinstädte oder allgemein “das Land” eine gewisse Ruhe aus. Wenn man durch die Straßen läuft, ist es relativ ruhig, zumindest im Vergleich zu den Großstädten oder Siedlungen, in denen sich die Bewohner auf zwei Quadratmeter Balkon aufhalten und so ihr inneres Leben nach außen kehren. Ich vermute sogar, dass diese Ruhe der primäre Grund ist, weshalb sich ehemalige Städter für das Leben abseits der Großstadt entscheiden. In diesem Fall stellt sich natürlich die Frage, wieso selbige diese Eigenschaft dann explizit torpedieren.

Das Eindringen von Städtern vollzieht sich in zwei Schritten. 

Erster Akt: Bevor das Haus durch Renovierung fertiggestellt und an die eigenen Bedürfnisse angepasst wird, wird ein Zaun um den Vorgarten herum gebaut. Und zwar nicht einer der üblichen 80-cm-Zäune, der einzig und alleine der optischen Abgrenzung dient, sondern ein Zaun in Höhe von zwei Metern. Dazu kommen denn noch elektrische Tore oder Türen, so dass die Begrenzung auch wirklich hermetisch abgeriegelt werden kann. Dieser Zaun dient aber nicht etwa dazu, Eindringlinge oder Einbrecher davon abzuhalten, in das Innere des Hauses zu gelangen – das wäre sowieso vergebens, da jeder Gelegenheits-Gauner bei derartigen Häusern keine Schwierigkeiten damit hätte, den Zaun zu überwinden und mal eben im Keller oder Erdgeschoss einzusteigen. Sondern der Zaun ist dazu gedacht, die Hausbewohner in Form von Katzen, Hunden, E-Rollern und nicht zu vergessen Kindern daran zu hindern, auf die böse Straße zu laufen. Denn alles abseits des eigenen Grundstücks ist natürlich hochgradig gefährlich. Das führt dann dazu, dass der Vorgarten inkl. Zaun eher nach Gefängnishof aussieht, was auch genau dem Sinn und Zweck dieser Bebauung am nächsten kommt. Eine aufwändigere Alternative ist die Mann- oder Frau-hohe blickdichte Hecke, doch bis eine solche vorhanden ist, dauert es dann doch ein wenig länger. In der Zwischenzeit wird auch mal durch grau- oder grünhässliche Plastikstreifen in den Gitterstäben der Zäune abgeholfen. 

Zweiter Akt: Der so begrenzte Vorgarten wird für alle Aktivitäten genutzt, die konträr sind zur ortsüblichen Verwendung. Also alles von in der Sonne sitzen, Kaffee trinken, Essen, mit den Kindern spielen, einen Trampolin aufstellen und darauf herumspringen, E-Roller und Fahrräder ausführen, Hunde herumtollen lassen und so weiter. Und zwar noch, bevor der Vorgarten in irgendeiner Form hergerichtet ist, dazu reicht dann auch die blanke Erde, die nach dem Herausreißen sämtlicher über lange Jahre gewachsenen Vegetation übrig geblieben ist. Das Leben, das sich normalerweise im Garten hinter dem Haus abspielt, wird so nach außen gekehrt. Also genau wie früher auf Balkonien oder diversen Parkanlagen in der Großstadt, nur eben hinter den eigenen, vergitterten Grundstücksgrenzen. 

Um es klar zu sagen – diese Nutzung erschließt sich mir nicht. Also wirklich überhaupt nicht. Kein bisschen. Wer möchte denn bitte, dass jeder Vorbeigehende einem auf den Kuchenteller blicken kann? Wenn man kein Problem damit hat, dass ein paar Dutzend Leute einem beim Lesen des Sportteils der Zeitung über die Schulter schauen, warum bleibt man dann nicht gleich in der Großstadt? Dort verstehen sich auch die E-Roller viel besser, schließlich bleiben sie unter ihresgleichen und können über die miserable Energiebilanz von Einfamilienhäusern diskutieren. 

Und natürlich wird auch umgekehrt ein Schuh draus. Denn alle Aktivitäten, die im Vorgarten stattfinden, sind wesentlich weiter sicht- und hörbar als diejenigen im normalen Garten. Insbesondere dann, wenn die eine oder andere Hüpfburg, Zelte oder besagte Trampoline hinzu kommen. Machen wir uns nichts vor – natürlich ist eine gewisse Schallemission gar nicht zu vermeiden, auch nicht bei Aktivitäten im normalen Garten. Wenn Kinder, Haustiere und ähnliches sich im Garten tummelt oder auch wenn Rasenmäher, Heckenscheren etc. ihren Reigen tanzen, ist die sonstige Ruhe zeitweise unterbrochen. Aber wenn bei der ortsüblichen Verfahrensweise ein Haus aus dem Protokoll heraus sticht und man bereits drei Straßen weiter genau diese Bewohner und ihre Aktivitäten identifizieren kann, ist dies eben suboptimal. Bei allen anderen hört man vielleicht etwas aus dem Hintergrund, aber eben wesentlich weniger und in geringerer Lautstärke als bei der neu hinzugezogenen Städtern. 

Also, liebe ehemalige Großstädter, warum benehmt Ihr Euch so? Warum passt Ihr Euch nicht an die jeweiligen Gepflogenheiten an? Warum wendet Ihr Euch dagegen? Wir mögen diese Ruhe, diese Idylle, diese Beschaulichkeit, auch wenn sie vielleicht langweilig erscheinen mag. Wir gehen gerne durch ruhige Straßen mit mehr oder minder gepflegten Vorgärten, die einfach nur da sind, weil sie nun einmal da sind. Dies ist genau einer der Gründe, weshalb wir hier leben. Ist dies wirklich so schwer zu verstehen? Wir mögen auch Vorgärten, die nicht nach Gefängnishof und Abgrenzung aussehen. Schließlich spricht nichts gegen den einen oder anderen Plausch unter Nachbarn am Gartenzaun. Wir mögen es auch, gegrüßt zu werden, wenn man sich zufällig sehen sollte. Also – wieso müsst Ihr unbedingt Euer eigenes Ding durchziehen, wieso müsst Ihr ausscheren, wieso wollt Ihr überhaupt, dass jeder einen derart intimen Einblick in Euer Leben erhält, während Ihr Euch auf der anderen Seite hinter Gittern verschanzt? Wäre es dann nicht sinnvoller gewesen, erst gar nicht umzuziehen? Wir haben unsere Bubble und Ihr habt Eure, wir akzeptieren das vollkommen. Ich könnte mir ein Leben in einer Großstadt momentan zumindest nicht vorstellen, würde aber auch nicht auf die Idee kommen, dorthin zu ziehen, ohne mein Verhalten zu adaptieren, bzw. wäre mir klar, dass es nicht möglich wäre, dort so zu leben, wie es in dieser Kleinstadt hier eben aufgrund der unterschiedlichen Bedingungen nun einmal möglich ist. Insofern wundert Euch auch bitte nicht, wenn ich Euch angesichts Eurer Verhaltensweise als Eindringlinge bezeichne. Ob das böse gemeint ist, entscheidet Ihr alleine…